Seinen ersten Kontakt mit Borussia Dortmund hatte Julien Duranville vor gut acht Jahren, im Herbst 2014. Als der BVB – mit Mats Hummels und Sebastian Kehl – zum Champions-League-Spiel beim RSC Anderlecht antrat, war Julien Duranville... Einlaufkind! 

Seitdem beobachtete Belgiens talentiertester Nachwuchsfußballer den BVB und verfolgte interessiert, wie Toptalente wie Ousmane Dembélé oder Jadon Sancho in Dortmund den letzten großen Schritt in ihrer sportlichen Entwicklung nahmen. Das bestärkte ihn darin, auch diesen Weg gehen zu wollen. Seit Januar ist Julien Duranville hier. Nach auskurierter Muskelverletzung mittendrin und herzlich aufgenommen.

Wenige Minuten vor zwölf machen die Kollegen erst mal Pause, aber für Julien Duranville hält der Tag noch eine Nachspielzeit bereit. Regen fällt hinab auf das BVB-Trainingszentrum in Brackel, es war eine schwere Einheit auf schwerem Boden, aber der belgische Junioren-Nationalspieler eilt beschwingt und mit federndem Schritt die Stufen hinauf in den ersten Stock der Geschäftsstelle Sport. Er freut sich, dass der BVB-Fotograf einen Karton mitgebracht hat, darin stecken die ersten Autogrammkarten seiner Karriere. Julien trägt einen schwarzen Hoodie und hat einen grauen Ordner unter dem Arm. Kurzer Handschlag mit seinem Deutsch-Lehrer, „Bonjour... äh: Guten Tag!“

In den kommenden 90 Minuten dieses kalten und verregneten Dienstags wird es nicht um Flanke, Schuss, Tor gehen, sondern um Verben, Artikel, Pronomen. Weil zu einem kompletten Fußballprofi auch die Fähigkeit zur Kommunikation gehört, unterzieht sich Julien Duranville einem speziell auf seine Bedürfnisse ausgerichteten Sprach-Unterricht. Es geht dabei nicht so sehr um das Rezitieren von Goethe-Versen. „Julien soll keine Aufsätze schreiben, sondern Tore schießen“, sagt der Deutsch-Lehrer Michael Mangesius. Zwei-, dreimal in der Woche treffen sich die beiden und widmen sich mit höchster Konzentration den Grundlagen der deutschen Sprache, aber der Spaß kommt nicht zu kurz. Vor ein paar Wochen etwa kam es zu einer überaus lustigen Szene mit Marcel Reif als Nebendarsteller und Lars Ricken in der Hauptrolle, aber dazu später mehr.

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Julien Duranville ist 16 Jahre jung, in der Nähe von Brüssel aufgewachsen und als Fußballspieler beim RSC Anderlecht groß geworden. 17 Tage nach seinem 16. Geburtstag lief er zum ersten Mal für Anderlecht in der ersten belgischen Liga auf, im zweiten Spiel schoss er sein erstes Tor, aus dem Stand vom linken Strafraumeck in den linken Winkel. Ein schneller und trickreicher Stürmer – so schnell und so trickreich, dass sie ihn daheim „L’Éclair“ nennen, den Blitz. Viele Klubs hatten Interesse an ihm, aber den Zuschlag bekam zu Beginn des Jahres 2023 der BVB.

Die Verpflichtung von Julien Duranville steht für die Dortmunder Strategie, hochkarätige Talente möglichst früh zu binden und sie auf den entscheidenden Schritten zur Profikarriere zu formen. So haben es die Sportdirektoren Michael Zorc und Sebastian Kehl schon bei Ousmane Dembélé, Christian Pulisic, Jadon Sancho, Gio Reyna, Erling Haaland oder Jude Bellingham gehalten. Julien Duranville soll der nächste sein in dieser illustren Reihe „Julien ist ein schneller, technisch starker und kreativer Flügelspieler, in dem wir großes Potenzial sehen“, sagt Sebastian Kehl. Die Botschaft dahinter ist deutlich: Wenn der BVB einen Spieler aus dem Ausland holt, soll er nicht die U23 verstärken, sondern für die Bühne Bundesliga fitgemacht werden – natürlich immer in der Hoffnung, dass es möglichst viele gemeinsame Jahren werden mögen.

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Herzlich willkommen in Dortmund, Julien! Die ganze Welt wollte dich haben – was hat denn den Ausschlag für deinen Wechsel zum BVB gegeben?

„Ich finde es fantastisch, wie hier junge Spieler weiterentwickelt werden. Weißt du, ich war schon als kleiner Junge ein Fan von Ousmane Dembélé. Ich liebe seine Art Fußball zu spielen und wollte damals unbedingt wissen, welcher Klub dahinterstand. Dadurch bin ich zum ersten Mal richtig auf den BVB aufmerksam geworden. Das letzte Argument war dann Jadon Sancho. Ein großartiger Fußballspieler, und er ist wie Dembélé und ich auf dem Flügel zu Hause.“ 

Sancho und Dembélé hatten beim BVB die Nummer 7. So wie du früher als Jugendspieler in Anderlecht...

„Ja, eine lustige Parallele, aber auch nicht mehr. Mich haben Rückennummern nie so sehr interessiert. Als ich im vergangenen Sommer mit 16 beim RSC Anderlecht in die Profimannschaft kam, hatte ich die 59. Warum? Man hat sie mir eben zugeteilt und ich wollte keine großen Ansprüche stellen. In Dortmund war die 16 frei, das passt schon. Ich fühle mich hier sehr wohl.“

Der BVB ist offenbar ein gutes Pflaster für Spieler aus Belgien.

„Oh ja, darauf achten wir zu Hause schon! Axel Witsel hat hier vier Jahre großartig gespielt, jetzt freue ich mich über die Gesellschaft von Thomas Meunier. Er hilft mir bei der Integration, vor allem, was die Sprache betrifft. Neben ihm sind da ja auch noch Sébastien Haller und Rapha Guerreiro, ebenfalls zwei Spieler, die meine Muttersprache sprechen. Und alle anderen sprechen perfekt Englisch, was mir die Kommunikation mit der gesamten Mannschaft sehr erleichtert. Aber mittelfristig will ich mich natürlich auf Deutsch verständigen.“

Die ersten Wochen beim BVB waren herausfordernd. Weil der Vater sich in der alten Heimat um die beiden jüngeren und noch schulpflichtigen Geschwister kümmert, hat Julien gemeinsam mit seiner Mutter erst einmal ein Zimmer in einem Hotel bezogen. Die Familienzusammenführung in Dortmund ist für die Zeit nach den Sommerferien geplant. Dazu hemmte den neuen Borussen in den ersten Wochen noch eine aus Anderlecht mitgebrachte Muskelverletzung, aber seit Anfang März darf er die Intensität steigern. Bei den Profis – und ein bisschen länger schon im Deutsch-Unterricht. An diesem nasskalten Dienstag stehen bei Michael Mangesius fußball- und alltagstypische Phrasen auf dem Programm. Julien klappt den grauen Ordner aus, holt seine Arbeitsbögen heraus und deklamiert: „Ich mache das Spiel.“ – „Das Sprechen ist einfach.“ – „Dortmund ist meine Stadt.“ Es folgen entsprechende Fragen, Michael Mangesius stellt sie auf Französisch, Julien antwortet auf Deutsch: 

„D‘où vient Gregor Kobel?“ – „Gregor Kobel kommt aus der Schweiz.“ 

„Avec quelle équipe t‘es-tu entraîné aujourd‘hui?“ – „Ich habe heute mit den Profis trainiert.“

„Pour quel club joues-tu?“ – „Ich spiele für Borussia Dortmund.“

„Quand as-tu vu jouer le Borussia Dortmund pour la première fois?“ 

Wann er seinen neuen Klub zum ersten Mal gesehen hat? Das ist eine Frage, die Julien Duranville zurück in die frühe Kindheit führt. Er war acht Jahre alt, als der BVB im Oktober 2014 zum Vorrundenspiel der Champions League im Stadion Constant Vanden Stock von Anderlecht gastierte. Als Trainer saß noch Jürgen Klopp auf der Bank, Sebastian Kehl dirigierte im Mittelfeld, Mats Hummels kam kurz vor Schluss für Sven Bender ins Spiel, und Marco Reus fehlte verletzt. Aber Julien Duranville lief mit auf – als Einlaufkind an der Hand von Anderlechts Stürmer Frank Acheampong. Noch heute erinnert er sich an ein „großartiges Erlebnis“, mal abgesehen vom Ergebnis, denn der BVB fuhr nach zwei Toren von Adrian Ramos und einem von Ciro Immobile einen ungefährdeten 3:0-Sieg ein.

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Du hast seit deinem siebten Lebensjahr für Anderlecht gespielt und dort alle Mannschaften bis zu den Profis durchlaufen. Wie schwer fiel dir der Neuanfang zu Beginn dieses Jahres? 

„Erst einmal überwog die Freude, denn ich wusste ja, wie großartig mein neuer Verein sein würde. Darüber habe mich sehr intensiv mit meinen Mitspielern ausgetauscht. So richtig nahe gegangen ist es mir erst, als der Tag des Abschieds kam und ich mit meinen Eltern nach Deutschland gefahren bin. Sagen wir es so: Die Entscheidung für den BVB war leicht, der Abschied dann schon schwerer.“

Wie sieht dein Plan für die nähere Zukunft aus?

„Erst einmal musste ich hier die Reha nach der Muskelverletzung im Oberschenkel absolvieren. Jetzt muss ich konzentriert daran arbeiten, meine Beweglichkeit und die Wettkampfhärte hundertprozentig zurückzubekommen. Wichtig ist, dass ich mich in die Gruppe integriere, und ich hoffe natürlich, irgendwann ein paar Minuten zu spielen. Schon jetzt macht es mir wahnsinnigen Spaß, wenn ich mit Karim Adeyemi im Training die Position tausche. Von links nach rechts und wieder zurück. Da stelle ich mir vor, wie wir damit im Spiel den Gegner verwirren, auch wenn das noch dauern kann. Ich mache mich nicht verrückt und will Stück für Stück weiterkommen.“ 

Wo siehst du die größten Unterschiede zwischen dem belgischen Liga-Fußball und der Bundesliga?

„Das Spiel in Deutschland ist schon sehr viel schneller. Und es wird gekämpft, bis der Schiedsrichter abpfeift. Alle Mannschaften hier zeigen eine mentalité guerrière, wie wir in Belgien sagen, eine echte Kriegermentalität. Bitte nicht falsch verstehen, das soll nicht militaristisch klingen. Ich will damit nur sagen, dass die Deutschen immer gewinnen wollen!“

Das passt ganz gut zu einem Video, das Julien Duranville ganz am Anfang seiner Zeit im lila-weißen Trikot des RSC Anderlecht zeigt. Zu sehen ist, wie der Junge mit der Nummer 7 auf dem Rücken dribbelt und Tore schießt. Bei der anschließenden Siegesfeier steht er ganz außen am Rand, er ist der Kleinste der Mannschaft und langt immer wieder mit dem Arm in die Mitte, um wenigstens einmal den Pokal zu berühren. Julien lacht. Ja, er kennt und mag das Video. „Das ist es doch, worum es im Fußball geht. Du willst Spiele und Pokale gewinnen, immer wieder. Natürlich ist das auch in Dortmund mein Ziel.“

Als Vorbild dafür hat er seinen belgischen Landsmann Romelu Lukaku auserkoren. Der Mann war schon Meister in Italien und Pokalsieger in England, er ist 1,90 Meter groß und 100 Kilogramm schwer, ein ganz anderer Spielertyp als der kleine, leichtfüßige Julien Duranville. „Big Rom“, wie sie Lukaku in der Heimat nennen, ist wie Julien ein Kind der lilaweißen Akademie. Mit 18 hat er Anderlecht verlassen und verdingt sich nach Stationen in Chelsea, West Bromwich, Everton und Manchester beim FC Internazionale in Mailand. Den Kontakt zur Basis aber hat Lukaku nie aufgegeben. „Big Rom ist wie ein großer Bruder für mich“, sagt Julien. „Ich kann ihn jederzeit anrufen und er hat immer ein offenes Ohr für mich.“ 

Beim RSC Anderlecht ist Lukaku längst eine Legende. Einer, wie Paul van Himst, Frank Vercauteren, Rob Rensenbrink. Die Pendants dazu auf Dortmunder Seite heißen Lothar Emmerich, Adi Preißler, Matthias Sammer. Oder Lars Ricken, und jetzt sind wir bei der am Anfang erwähnten lustigen Geschichte. Weil der Deutsch-Lehrer Michael Mangesius immer darum bemüht ist, den Unterricht ein wenig abwechslungsreicher zu gestalten, schweift er mit seinem Schüler gern ab in die Dortmunder Vereinsgeschichte. Wie war das mit Emmas linker Klebe? Wer hat sich seine Wunde am Spielfeldrand tackern lassen? Warum liegt die Wahrheit immer auf dem Platz? Und: Was war das Besondere beim alles entscheidenden Tor beim Champions-League-Sieg 1997? Michael Mangesius hat ein Video mitgebracht, es zeigt, wie Ottmar Hitzfeld im Finale gegen Juventus Turin den damals 20 Jahre jungen Stürmer Lars Ricken einwechselt und der sofort auf das Turiner Tor läuft. Aus dem Off kommentiert der Fernsehreporter Marcel Reif, souffliert vom Deutsch-Lehrer Mangesius: „Ricken! Lupfen jetzt! Ja!“, und in exakt diesem Moment läuft Lars Ricken über den Flur. Er ist jetzt 46, hat als Direktor des Nachwuchsleistungszentrums stets in Brackel zu tun und wundert sich ein bisschen, warum da auf einmal so laut sein Name gebrüllt wird.

Wie Lars Ricken da verwundert seinen Kopf in den Unterrichtsraum zu Julien Duranville und Michael Mangesius steckt, brechen die beiden in spontanes Gelächter aus. Was für eine großartige Szene! Was für ein großartiger Klub!

Autor: Sven Goldmann

Fotografen: Alexandre Simoes, Marco Donato

Der Text stammt aus dem Mitgliedermagazin BORUSSIA. BVB-Mitglieder erhalten die BORUSSIA in jedem Monat kostenlos. Hier geht es zum Mitgliedsantrag.