Vor einigen Wochen hat er sein Karriere-Ende als Profifußballer bekanntgegeben – nach 452 Einsätzen, darunter sechs A-Länderspielen. Ein zweites Standbein besitzt der Weltmeister von 2014 seit fünf Jahren mit dem „Schmackes“. Doch das „gutbürgerliche Kneipenrestaurant“ ist ebenso von der Pandemie betroffen wie sein Engagement beim Westfalenligisten TuS Bövinghausen. Seine Zuversicht hat Kevin Großkreutz (32) dennoch nicht verloren. 

Fußball-Dortmund hat einen emotionalen (Fernseh-)Abend hinter sich. Zu normalen Zeiten wären 66.000 Menschen euphorisiert aus dem Stadion gegangen, und einige von ihnen hätten die Nacht zum Tag gemacht nach dem denkwürdigen Spiel gegen den FC Sevilla. Auch im „Schmackes“ an der Hohen Straße hätte der Zapfahn nur eine Stellung gekannt: Durchfluss. Doch frisches Brinkhoff’s No.1 fließt hier schon seit Monaten nicht mehr. 

Der Hausherr stellt eine Flasche Selters auf den Tisch, als wir uns am Tag nach dem Spiel treffen. Wir kennen uns seit über zwölf Jahren. Und wie immer ist Kevin gutgelaunt, immer optimistisch. Das Glas ist für ihn stets halbvoll, nie halbleer.  

Wie hast Du das Spiel gegen Sevilla erlebt, wo hast Du es gesehen? 
Ich bin immer noch mit Emotionen dabei, aber es ist nochmal etwas anderes, wenn man ein Spiel alleine zuhause vor dem Fernseher sieht, weil Frau und Kinder im Bett sind und man coronabedingt nicht mit Kollegen schauen darf. Es ist ein komisches Gefühl, wenn man zum einen nicht mehr mit einwirken kann auf ein Spiel, das der Gegner zu Beginn komplett in der Hand hat, und zum anderen noch nicht mal im Stadion dabei sein und mitfiebern, mitschreien darf. 

Was denkst Du seit diesem Spiel über den Videobeweis? 
Er ist und bleibt ein schwieriges Thema. Es war für alle komisch: Erst gibt der Schiri ein Tor, dann gibt er es doch nicht. Dafür gibt er Elfmeter, den der Torwart hält, der nach einem Angriff für Sevilla dann wiederholt wird. Insgesamt hat der Video-Beweis den Fußball nicht gerechter gemacht. Die Fehler verschieben sich nur. Und wenn wir ehrlich sind: Wir Spieler machen Fehler, die Schiedsrichter machen Fehler. Fehler gehören zum Fußball dazu. 

Was hast Du 2013 vor dem Viertelfinale gedacht? 
Wir waren gegen Malaga ja nicht unbedingt Außenseiter. Was wir mitgenommen haben, war dann diese irre Schlussphase im Rückspiel mit den Toren von Marco (Reus, Anm. d. Red.) und Felipe (Santana) in der Nachspielzeit. Was das bewirkt hat, hat man dann ja im Halbfinal- Hinspiel gegen Real Madrid gesehen. 4:1 – ich kann’s heute noch nicht fassen, dass wir diese Mannschaft 4:1 geschlagen haben. Und es war verdient. Wir waren in einem Lauf, niemand konnte uns stoppen. 

Auch Kevin Großkreutz, der Straßenfußballer aus Eving mit der Lunge aus Stahl, war nicht zu stoppen. Ein Jahr später – im Sommer 2014 – nahm ihn Bundestrainer Joachim Löw mit zur WM nach Brasilien. Im Finale gegen Argentinien stand er schon zur Einwechselung bereit, ehe Bastian Schweinsteiger – der Spieler dieser WM – dann doch weitermachen konnte. Auch ohne Einsatzminute ist Kevin Großkreutz: Weltmeister! Fußball-Weltmeister! 

Es gibt Stimmen, die sagen: Kevin Großkreutz hat zu wenig aus seiner Karriere gemacht. Ich sage: Kevin Großkreutz hat mit seinem Willen mehr erreicht, als für ihn eigentlich möglich war. Was meinst Du? 
Beide Thesen sind richtig. Als ich 2009 zum BVB zurückkam, aus Ahlen, hat doch niemand damit gerechnet, dass ich bei den Profis eingesetzt werde, sondern bei den Amateuren. Jeden Sommer kamen Spieler für meine Position. Ich habe mich durchgesetzt, jedes Jahr aufs Neue. Natürlich habe ich Fehler gemacht in meiner Karriere, grobe und blöde Fehler. Vielleicht hätte ich mehr Erstligaspiele, wenn ich diese Fehler nicht begangen hätte. 

Wäre es besser gewesen, nach dem Trainerwechsel von Klopp zu Tuchel in Dortmund zu bleiben? Frei nach dem Spruch von Englands Fußball-Legende Gary Lineker – „Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen die Deutschen“ – hätte es auch 2015 heißen können: Am Ende spielt doch der Großkreutz? 
Ich habe aus einer Emotion heraus entschieden und weder auf meine Freunde noch auf meinen Berater gehört und am letzten Tag des Transferfensters etwas übers Knie brechen wollen. 

Die Spielberechtigung für Galatasaray scheiterte an einem wenige Minuten zu spät bei der UEFA eingegangen Formular. Aber was war der Anlass für den abrupten Wechselwunsch?
Thomas Tuchel hatte mir mitgeteilt, dass er vorerst nicht mit mir plant, weil ich nach einer Knieverletzung Trainingsrückstand hatte. Im Nachhinein hätte ich mir sagen sollen: Zieh dein Ding durch; wer weiß, was im Dezember ist.  

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Nach 236 Spielen für die erste Mannschaft von Borussia Dortmund, in denen er 27 Tore erzielt, zumeist enthusiastisch zelebriert mit dem Anhang auf der Südtribüne, wo er selbst von Kindesbeinen an gestanden hat, unterschreibt Kevin Großkreutz am 31. August 2015 beim türkischen Meister Galatasaray Istanbul. Der Eintrag ins elektronische Transfersystem der FIFA kommt jedoch erst am 1.9. um 0 Uhr und 18 Sekunden zum Abschluss. Zu spät. Der Mann, der beim BVB bis auf Mittelstürmer jede Position gespielt hat – selbst im Tor stand er mal für gut zehn Minuten –, dessen Marktwert im Jahr 2014 zehn Millionen Euro betrug (transfermarkt.de), kehrt im Januar 2016 in die Bundesliga zurück, zum VfB Stuttgart, startet gut, verletzt sich schwer, steigt mit den Schwaben ab, versucht sich dann ein Jahr beim Zweitligisten Darmstadt 98, doch ihm fehlen Dortmund und noch mehr die Familie. An die Glanzzeiten im schwarzgelben Trikot kann Großkreutz nicht mehr anknüpfen. Auch beim KFC Uerdingen wird er – bis auf einen unvergesslichen Moment – nicht glücklich. Diesen Moment bescheren ihm seine früheren Kollegen im Pokalspiel am 9. August 2019, als sie nach dem Schlusspfiff spontan und applaudierend beiseitetreten und ihm die Bühne vor den eigenen Fans überlassen. Kevin Großkreutz, der Töchterchen Leonie stolz auf dem Arm trägt, hat Mühe, die Tränen zurückzuhalten. 

Was für immer stehen bleibt: Kevin Großkreutz war 2011 tragendes Mitglied der bis dahin jüngsten Meistermannschaft, die es im deutschen Fußball gegeben hat, er war Stammspieler beim ersten und bisher einzigen Double der Vereinsgeschichte im Jahr darauf und auch Triebfeder auf dem Weg ins und beim Champions-League-Finale 2013. In diesen drei Spielzeiten kommt er in 130 von 144 möglichen Partien zum Einsatz. Sein Name wird auf ewig für eine BVB-Epoche stehen. „Es war eine einmalige Zeit“, sagt er. „Der Zusammenhalt nicht nur im Team war überragend, sondern vom Physio über den Zeugwart bis zu den Fans waren wir eine große Einheit. Niemand hat damit gerechnet, wie wir durch die Liga marschiert sind. Sven Bender und ich kamen aus der zweiten Liga, Schmelle von unseren Amateuren. Mats (Hummels) und Neven (Subotic) fingen mit 19 bei uns an. Wenn man zusammenhält, ist vieles möglich. So richtig begreifen können wird man nie, was in der Zeit passiert ist. Es war ein Traum, der Wahrheit wurde.“

Ihr wurdet damals getragen von den eigenen Emotionen und von den Fans. Seit dem 29. Februar 2020 hat der SIGNAL IDUNA PARK nur dreimal Spiele mit Zuschauern erlebt. 9.000 waren es gegen Gladbach, 11.500 gegen Freiburg und 300 gegen Schalke. In den Spielen vor nacktem Beton ist die Liga-Heimbilanz mit sechs Siegen, sechs Niederlagen und zwei Unentschieden nur ausgeglichen. Fällt es einer Mannschaft, die diesen grandiosen Support gewohnt ist, schwerer in einem leeren Stadion zu spielen als Teams, die das nicht so kennen? 
Ohne Zuschauer in diesem riesigen Stadion – das muss sich ganz komisch anfühlen. Die Fans fehlen einfach. Sie sind verdammt wichtig für unsere Mannschaft und auch für den Gegner. Wenn du von 80.000 ausgepfiffen wirst, beeinflusst dich das schon, dann kannst du dein Spiel nicht so durchdrücken. Jetzt können die Gäste hier frei aufspielen. 

Hast Du Hoffnung auf Spiele mit Fans? 
Alle in Deutschland vermissen das. Ich würde sofort dabei sein wollen. Beim bisher letzten Spiel mit Zuschauern war ich da, gegen Freiburg. Das war ein Hauch von Normalität. Ich fand es bemerkenswert, wie sich die Leute verhalten haben: an den Eingängen und auch im Stadion. Es wirkte so, als wollte niemand etwas kaputt machen. 

Wann spielt eigentlich der TuS Bövinghausen üblicherweise? 
Sonntags, 15 Uhr. Warum fragst Du? Ach so... ja klar... Bis auf Sonntag werde ich zu jedem Heimspiel gehen können. Das ist ein schöner Nebeneffekt.

Hast Du eine Dauerkarte für die Süd in Aussicht? 
Man kennt ja viele Jungs, und irgendwo ist immer eine Karte übrig. Wenn wieder 80.000 kommen dürfen, will ich unbedingt für ein paar Minuten mit meinem Sohn auf die Süd. Er wird im Mai zwei. Leonie war schon einmal dort – mit Ohrenschützern. 

Der TuS Bövinghausen, Dein neuer Verein, spielt in der Westfalenliga. Nach Freizeit-Kicken hört sich das nicht an.
Es ist ein ambitioniertes Hobby. Der Verein will hoch. Da können einige richtig gut Fußball spielen. Wir trainieren dreimal in der Woche, und wenn wir den Aufstieg in die Oberliga packen sollten, dann viermal. Aber Fußball, Beruf und Familie lassen sich so viel leichter unter einen Hut bringen. 

Wie läuft’s im Training? 
Wir dürfen ja noch nicht. Weder Training noch Treffen sind möglich. Ein paar Jungs kenne ich schon, vor allem unseren Mittelstürmer Eyüp Cosgun. Mit ihm bin ich in Eving aufgewachsen. Unser Innenverteidiger ist Schalker. Aber auch mit ihm werde ich klarkommen. 

Wie schwer ist Dir die Entscheidung gefallen, die Karriere als Profi zu beenden?
Wenn du 15 Jahre lang jeden Tag zum Training fährst, manchmal zweimal am Tag, wenn sich in deinem Kopf alles um Fußball dreht, ist es schwer, damit aufzuhören. Ich hatte ein paar Angebote, aber dann hätten wir umziehen müssen. Ich habe mich für meine Familie entschieden. Ich wollte, dass meine Kinder hier in Dortmund aufwachsen. Profifußball ist etwas Wunderbares, aber er bestimmt fast 365 Tage im Jahr dein Leben und das deiner Familie. 

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So hast Du auch mehr Zeit fürs „Schmackes“. 
Ja, dann kann ich mehr hier sein. Wir wollen einen zweiten Laden aufmachen. Dann braucht mein Geschäftspartner Christopher Reinecke mehr Unterstützung. 

Wie geht es Euch nach Monaten im Lockdown? 
Die Lage ist angespannt. Immerhin hat der Staat jetzt einen Teil der angekündigten Hilfen überwiesen. Uns war wichtig, niemanden entlassen zu müssen. Aber es wird Zeit, dass sie aus dem Kurzarbeitergeld rauskommen. Gerade für die, die Kinder haben, ist es besonders schwer. Es ist ein Punkt gekommen, an dem es reicht. Alle hoffen, dass es wieder losgeht. Viele haben Sorgen, Existenznöte. Es ist eine ganz schwierige Situation für die Gastronomie, nicht nur in Dortmund, sondern in ganz Deutschland. 

Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 waren nicht nur Einnahmeausfälle zu verkraften, sondern musste zudem viel Geld in die Umsetzung von Hygienekonzepten investiert werden. Wie hat sich das bei Euch ausgewirkt? Habt Ihr in der Zeit von Anfang Mai bis Ende Oktober 2020 einen Teil der Umsatzverluste aufholen können? 
Nein, das ging natürlich nicht, das war bestenfalls kostendeckend in der Zeit. Wir müssen weitermachen, den Kopf hochhalten und hoffen, dass es endlich losgeht.

Anfang Februar lag die Inzidenz in Dortmund für fünf Tage unter der Marke von 50. Doch die Entwicklung ist seit Wochen gegenläufig. Die Pandemie hält Deutschland weiter fest im Würgegriff. Wann das „Schmackes“wieder Gäste begrüßen darf, steht in den Sternen. 

Welche Wünsche hast Du an die verbleibenden Monate des Jahres 2021?
Das Wichtigste ist, dass wir alle gesund bleiben. Und wir alle warten darauf, dass endlich das normale Leben zurückkehrt – und dass wir bald wieder zusammen ein Bier trinken können. 
Autor: Boris Rupert 
Fotos: Mareen Meyer