Die Bundesliga-Spielzeit 2019/20 war die zehnte mit Lukasz Piszczek. Und auch in der anstehenden Saison wird der 35-Jährige mit der großen Lunge und dem noch größeren Herz die Farben Schwarz und Gelb tragen. Piszczek ist die große Konstante beim BVB. Großen Anteil daran, dass der Pole nach Dortmund wechselte, hatte sein früherer und heutiger Trainer Lucien Favre. Als Jürgen Klopp im Sommer 2010 die ersten Gespräche mit Piszczek aufgenommen hatte, riet ihm Favre: „Lukasz, das müssen Sie auf jeden Fall machen! Es ist der BVB! Zur Not müssen Sie dorthin zu Fuß gehen!“

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2010

Vor ein paar Wochen hat Lukasz Piszczek ein nur am Rande beachtetes und doch sehr bemerkenswertes Jubiläum gefeiert. Beim 1:0-Sieg in Düsseldorf ist er zum 250. Mal in der Bundesliga für den BVB aufgelaufen, mal wieder als Kapitän in der Vertretung von Marco Reus und mal wieder auf einer Position, die er so souverän interpretiert, als hätte er nie woanders gespielt. Weiß noch jemand, dass Borussias Pole mal ein Stürmer war?

Erst im zweiten Karriereabschnitt hat er sich einen Namen als einer der besten Rechtsverteidiger der Welt gemacht. Und jetzt, im zarten Alter von 35 Jahren, verantwortet er ein gutes Stück weiter im Zentrum den rechten Part in der Dreierkette, ohne dass Trainer Lucien Favre dafür eine große Umschulung hat ansetzen müssen.

Lukasz Piszczek ist ein Mysterium im positiven Sinne, immer wieder für Überraschungen gut, auf dem Platz und auch daneben. Im Mai hat er seinen Vertrag beim BVB noch einmal um ein Jahr verlängert und darüber so viele Worte verloren wie fast immer, nämlich gar keine. Piszczu steht nicht gerade im Verdacht, einen Zweitwohnsitz in Plaudertaschenhausen zu unterhalten, aber ... zum Video-Interview erscheint er mit schwarzgelber Maske und in bester Laune.

Lukasz Piszczek nimmt die Maske ab. Er hat ein bisschen was zu erzählen.

Dobry dzién, Lukasz! Schau mal, wir haben hier Deine Autogrammkarten aus zehn Jahren beim BVB. Auf den ersten Blick hast du Dich gar nicht verändert. Immer noch das Lausbubenlächeln, immer noch dieselbe Kurzhaarfrisur mit dem kecken Wipfel vorn. Schade, dass auf den Karten Dein Körper gar nicht zur Geltung kommt, denn da kann man schon eine Entwicklung sehen: Der 35-jährige Lukasz Piszczek wirkt noch viel fitter und athletischer als der mit 25!
Das ist aber ein schönes Kompliment, vielen Dank! Weißt Du, ich arbeite schon seit meinen ersten Jahren in der Bundesliga an meiner Muskulatur. Ich war in meiner Jugend ein sehr dünner Bursche, auch noch als junger Profi, als ich 2007 aus Polen nach Berlin zu Hertha BSC gewechselt bin. In meiner zweiten Saison bin ich ein halbes Jahr lang ausgefallen und musste eine Operation an der Hüfte über mich ergehen lassen. Das war ein sehr einschneidendes Erlebnis, vor allem die anschließende Reha. Ein gut trainierter Körper kann die Belastungen des Profigeschäfts sehr viel besser wegstecken, und von nichts kommt nichts.

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2012

Unter Lucien Favre spielst Du jetzt schon die vierte Position deiner Karriere. Nach den Anfängen im Sturm und im offensiven Mittelfeld und den langen Jahren als Außenverteidiger bist Du jetzt Teil der Dreierkette. So variabel hat kaum jemand seine Profikarriere auf höchstem Niveau gestaltet.
Ja, was soll ich dazu sagen? Lass mich es mal so ausdrücken: Das zeigt vielleicht, dass ich als Spieler vielleicht nicht der Dümmste bin. Ich glaube, ich kann mich gut in jede Rolle hineinversetzen und zeigen, dass ich das Spiel verstehe. Es ist ohnehin so, dass mein Gehirn alles abspeichert, was mit Fußball zu tun hat. Nach jedem Spiel mache ich meine persönliche Analyse und notiere mir, was ich gut gemacht habe – aber auch, was nicht so gut war.

Vor ein paar Wochen hast Du einen Vertrag für ein elftes Jahr in Dortmund unterschrieben. Würde uns nicht wundern, wenn danach noch ein zwölftes folgt...
Langsam! Stand heute werde ich mich im nächsten Sommer aus Dortmund verabschieden. Ich habe meine Pläne zu Hause in Polen, die musste ich jetzt wegen der Vertragsverlängerung schon um ein Jahr verschieben. Da ist meine Akademie, um die ich mich kümmern muss, und ein bisschen Fußball will ich ja auch noch spielen, bei meinem Heimatverein LKS Goczalkowice.

Ein Problem sind die Vereinsfarben...
Hmm, Du meinst, das Blau-Weiß von Goczalkowice passt nicht so gut zu meinen letzten zehn Jahren hier? Ich fürchte, da ist mein Einfluss begrenzt. Ich kann ja nicht die Vereinsgeschichte umschreiben. Und zu Goczalkowice passt Blau-Weiß sehr gut. Im Ruhrgebiet ist das natürlich eine ganz andere Sache.

In der Heimat könntest Du noch mal da spielen, wo Du früher mal angefangen hast. Erlebt Polen vielleicht die Wiedergeburt des Stürmers Lukasz Piszczek?
Gute Frage, das wäre schon eine Überlegung wert! Ich habe früher für mein Leben gern im Angriff gespielt und Tore geschossen. Aber die Tendenz im Alter geht ja dahin, dass man sich auf dem Platz ein bisschen weiter zurückzieht. Ich gehe mal davon aus, dass ich auch in Goczalkowice das Spiel von hinten dirigieren werde.

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2014

Der Verteidiger Lukasz Piszczek ist eine Erfindung des Mannes, der sein erster Trainer in Deutschland war und den er im Herbst seiner Karriere in Dortmund wieder getroffen hat. Lucien Favre und Lukasz Piszczek sind das Abenteuer Bundesliga im Sommer 2007 gemeinsam bei Hertha BSC angegangen.

Damals wie heute hatte Lukasz sich für das Trikot mit der Nummer 26 entschieden. Die Nummer, mit der sich ein paar Jahre zuvor Sebastian Deisler in Berlin verewigt hatte. Rein symbolisch gesehen war das eine schwere Belastung, denn wahrscheinlich hat nie ein besserer Fußballspieler für Hertha BSC gespielt als Deisler. Doch so wie Lukasz Piszczek nach seiner Umschulung vom Stürmer zum Außenverteidiger auf dem rechten Kreidestrich entlang lief und immer wieder den Ball in die Mitte schlug, mit viel Effet und einer Flugkurve, die es Verteidigern nahezu unmöglich machte, mit zerstörerischer Wucht einzugreifen – da sah es so aus, als habe er vor dem Spiel ein paar der von seinem Trainer Lucien Favre so geschätzten DVDs studiert. DVDs, auf denen die Flankenläufe von Sebastian Deisler zu sehen sind.

Eine perfekte Flanke segelt nicht hoch und weich in den Strafraum. Der Ball braucht Spin, damit er sich vom Torwart wegdreht in Richtung Elfmeterpunkt; er braucht Tempo, das ein guter Stürmer umsetzen kann in einen erfolgreichen Kopfstoß; er braucht eine flache Flugkurve, damit Torhüter und Verteidiger möglichst wenig Zeit haben, sich auf ihn einzustellen. Der Fuß trifft den Ball an einer ganz bestimmten Stelle zwischen großem Zeh und Knöchel, und das aus vollem Lauf. Genau so hat es Deisler in seiner besten Zeit gemacht, und so machte es auch Piszczek.

Vor dem Wechsel nach Berlin hatte er mit Zaglebie Lubin die Polnische Meisterschaft gewonnen, natürlich als Stürmer, und als so einen hatte ihn auch Hertha eingekauft. Das Tempo in der Bundesliga aber schien ein wenig zu hoch für ihn zu sein. Wahrscheinlich hätte ihn so ziemlich jeder Trainer schon abgeschoben. Aber Lucien Favre gefiel Piszczeks Stil. Auch als Piszczek in seiner zweiten Berliner Saison ein knappes halbes Jahr verletzungsbedingt ausfiel, war ein Verkauf oder Leihgeschäft nie ein Thema. Denn Lucien Favre hatte etwas gesehen, was noch keinem aufgefallen war: Piszczeks Spielintelligenz, sein Gespür für Zeit und Raum, das man ebenso wenig erlernen kann wie das Schlagen perfekter Flanken.

„Lukasz hat sich auch als Stürmer gut bewegt, er hat ein gutes Kopfballspiel und einen Blick für die Situation. Aber seine wahre Gabe, lag woanders, das haben wir zum ersten Mal bei einem Testspiel mit der U23 gesehen“, sagt Favre im Rückblick. „Er ist ein außergewöhnlich intelligenter Fußballspieler und hat die Abläufe auf der Außenlinie sofort verinnerlicht. Es ist außergewöhnlich, dass ein Stürmer in die Viererkette geht. In der Fünferkette funktioniert das, wenn er als einer von zwei offensiven Spielern die Außenposition besetzt. Aber in der Viererkette? Das gibt es so gut wie nie! Lukasz ist da eine ganz große Ausnahme!“

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2016

Lukasz, wie hat Lucien Favre Dir damals in Berlin die Versetzung in die Abwehr erklärt?
Da war nicht viel zu erklären. Ich hatte mich nach meiner Hüftoperation und der langen Pause wieder an die Mannschaft herangearbeitet und in Herthas U23 in zwei Spielen fünf Tore geschossen und habe mir gedacht: Na, jetzt könntest du bald auch in der Bundesliga eine Chance bekommen! Beim Spiel gegen Bremen bin ich zum ersten Mal eingewechselt worden, eine Woche später durfte ich in Hoffenheim das erste Mal von Anfang an spielen. Nicht als Stürmer, aber links im offensiven Mittelfeld. Dann hat sich nach einer Viertelstunde unser argentinischer Verteidiger Leandro Cufré verletzt. Wir hatten schon ein paar Verletzte und keine Verteidiger mehr, also musste Lucien Favre umstellen. Marc Stein wechselte von der rechen Abwehrseite nach links und ich auf die rechte Seite. Das lief ganz gut, wir haben 1:0 gewonnen, und eine Woche später stand ich gegen den HSV als rechter Verteidiger in der Startelf.

So lief das bis zum Ende der Saison, in der ihr bis kurz vor Schluss noch die Chance auf die Deutsche Meisterschaft hattet.
Ich war froh, nach einer so langen Pause wieder dabei zu sein, dann auch noch als Stammspieler in einer sehr erfolgreichen Mannschaft. Aber eine Dauerlösung sollte das auf der Verteidigerposition nun auch nicht werden. Nach der Saison hatten wir ein großes Mannschaftsessen, da habe ich dem Trainer gesagt: In der nächsten Saison sind die Verteidiger ja wieder fit, dann will ich wieder vorn als Stürmer spielen! Er hat geantwortet: Ja, ja, wir werden sehen.

Zum Start der neuen Saison warst Du immer noch rechter Verteidiger. Bis Lucien Favre nach dem missratenen Saisonstart von Friedhelm Funkel abgelöst wurde.
Friedhelm Funkel hat mich wieder nach vorn geschoben, aber nach ein paar Wochen hatten wir wieder ein paar Verletzte, und alles ging wieder von vorn los. Was sollte ich machen? Die Mannschaft brauchte mich! Wir haben uns lange gegen den Abstieg gestemmt, am Ende erfolglos, aber ich habe mich auf der neuen Position für einen Wechsel nach Dortmund interessant gemacht. Wir haben zu Hause mit sehr viel Pech 0:0 gegen den BVB gespielt. Das muss Jürgen Klopp gefallen haben. Aber er hat mir auch ganz deutlich gesagt: Wenn Du zu uns kommst, dann als Backup auf der rechten Abwehrseite für Patrick Owomoyela.

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2018

Der Kontakt zwischen Lucien Favre und Lukasz Piszczek ist nach der Berliner Zeit nie abgerissen. Als Favre 2011 den abgeschlagenen Tabellenletzten Mönchengladbach übernahm, führte ihn die Tabellenkonstallation am letzten und entscheidenden Spieltag auf indirektem Wege auch nach Dortmund. Dort spielte der Gladbacher Konkurrent Eintracht Frankfurt, und weil der BVB schon als Meister feststand, fürchtete Favre ein wenig um die Dortmunder Bemühungen, auch das Letzte in einen Sieg zu investieren. Also rief er bei seinem ehemaligen Spieler an. Lukasz Piszczek beruhigte ihn mit den Worten: „Keine Sorge Trainer, wir werden alles für einen Sieg geben!“ So kam es denn auch, und Lucien Favre durfte sich bestätigt sehen für die Empfehlung, die er Lukasz Piszczek bei einem Telefonat im Frühjahr 2010 gegeben hatte. Da hatte der Spieler seinen ehemaligen Trainer vom Angebot aus Dortmund erzählt und was er denn damit anfangen solle. Lucien Favre hat geantwortet: „Lukasz, das müssen Sie auf jeden Fall machen! Es ist der BVB! Zur Not müssen Sie dorthin zu Fuß gehen!“

Lukasz, jetzt mal ehrlich im Rückblick nach zehn Jahren: Stimmt diese Anekdote?
Natürlich! Aber zur Wahrheit gehört auch, dass ich damals nicht nur mit Lucien Favre gesprochen habe, sondern auch noch mit allerlei anderen Leuten. Und alle haben mir gesagt, dass der BVB ein großartiger Verein ist und Jürgen Klopp ein Trainer, unter dem sich junge Spieler gut entwickeln können.

Polen – Berlin – Dortmund, Stürmer – Verteidiger. Warum fallen Dir solche Umstellungen so leicht?
So leicht ist mir das alles nicht gefallen. Am Anfang habe ich schon Fehler gemacht, aber die Kollegen haben mir wichtige Tipps gegeben. Und es hat mir natürlich sehr geholfen, dass unsere Mannschaft in Dortmund schon damals so gut funktionierte.

Du hättest auch mit Robert Lewandowski eine polnische Doppelspitze bilden können. Ihr seid ja zur selben Zeit nach Dortmund gekommen.
Hübsche Idee, aber... Man muss schon sagen, dass Robert Weltklasse ist und ich – nun ja, ich war in der Jugend ein guter Stürmer, aber im Profibereich sind die Maßstäbe noch einmal anders. Ich kann schon sehr zufrieden sein, dass es auf der defensiven Position so gut für mich gelaufen ist.

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2020

Mit Dir begann der große Aufschwung beim BVB. Gleich im ersten Jahr habt Ihr die Meisterschaft gewonnen, im Jahr darauf das Double, noch ein Jahr später ging es bis ins Champions-League-Finale. Hätte schlechter laufen können...
Ach, schlechter gelaufen ist es im Jahr davor. Ich kenne auch die andere Seite. Der Abstieg 2009/10 mit Hertha BSC hat mich schon schwer getroffen. Dass es schon im nächsten Jahr und gleich in meiner ersten Saison beim BVB zur Meisterschaft reichte, war aus emotionaler Sicht ganz bestimmt ein Höhepunkt meiner Karriere.

War es auch mal ein Thema für Dich, nach der Karriere in Deutschland zu bleiben? So wie Dedé, der nicht mehr nach Brasilien zurückgegangen ist? Neven Subotic hat seinen Hauptwohnsitz immer noch in Dortmund und freut sich schon darauf, nach seiner Profikarriere irgendwo in der Kreisliga Spaß zu haben und lange Bälle zu schlagen. Da könntet ihr beide noch mal ein schönes Abwehrduo bilden.
Also wenn Neven gern lange Bälle schlagen will, dann passen wir nicht so ganz in dieselbe Mannschaft. Nein. Spaß beiseite, meine Frau und ich haben schon lange entschieden, wieder nach Polen zurückzuziehen. Da lebt unsere Familie, da ist mein Heimatverein und da habe ich meine Akademie aufgebaut. Wir haben ungefähr 60 Kinder in vier Jahrgängen von der U8 aus der Region bis zur U12. Wir wollen das sukzessive aufbauen bis zur U18, da können die Jungs aus ganz Polen kommen, wenn sie denn gut genug sind.
Interview: Sven Goldmann