Eine Saison mit Höhen und Tiefen und einem bitteren Ende liegt hinter uns. Wir blicken auf die Spielzeit 2022/23 zurück und stellen dabei ein großes Comeback in den Mittelpunkt. Teil 1 des Saison-Rückblicks.

Wir sitzen im Bus, der uns zurück nach Bad Ragaz bringt. Borussia Dortmund hat gerade das erste Testspiel im Trainingslager der Saisonvorbereitung 2022 mit 1:3 gegen den FC Valencia verloren. Auf dem Handy kommt eine Nachricht an: „Bitte bereithalten für eine Kommunikation. Es wird um Haller gehen, neutrales Motiv, kein Lachen.“ Sofort macht sich Unbehagen breit. Was kann passiert sein? Es muss etwas passiert sein. 

Als wir im Mannschaftshotel angekommen sind, machen wir uns auf den Weg zu einem sehr späten Abendessen, immer noch unwissend. Kurze Zeit später die nächste Nachricht: „Bitte zu den Mannschaftsräumen kommen.“ Wir stehen auf, gehen am Kellner vorbei, der gerade unser Essen bringt, und sitzen nur wenige Minuten später auf der Hotelterrasse, um um 22.55 Uhr die Nachricht mit der Überschrift „Haller aus BVB-Trainingslager abgereist“ zu veröffentlichen. Ein Schock, es wird still, keiner redet, alle starren ins Leere. Beim Leistungssportler, der am Tag zuvor noch gutgelaunt eine Medienrunde absolvierte, lachte, Sätze sagte wie „Die ersten Tage waren sehr schön, ich wurde von allen gut aufgenommen“ und „Alles ist gut, ich kann mich nicht beklagen“, wurde ein Tumor im Hoden festgestellt. Die Nachricht führt zu einem Bruch im Trainingslager von Borussia Dortmund. 

Die Stille nach dem Schock.

Dabei hat die Saison euphorisch begonnen. Genauer: Schon vor dem offiziellen Saisonstart, als Edin Terzic im Mai 2022 als neuer BVB-Trainer vorgestellt wurde, schürte er mit einer Videobotschaft die Euphorie. Die Kernaussage: „Lasst uns so laut sein wie noch nie. Dann bin ich mir sicher, dass wir die große Chance haben, eines Tages zu feiern wie noch nie.“ Auch die Neuzugänge Niklas Süle, Karim Adeyemi, Nico Schlotterbeck, Salih Özcan, Alexander Meyer und Sebastien Haller haben die Hoffnungen auf eine erfolgreiche Saison steigen lassen. Nach den ersten Trainingseinheiten in Brackel und Testspielen in der Umgebung ging es für den BVB-Tross Mitte Juli ins Trainingslager nach Bad Ragaz. In der Schweiz wurden die Grundlagen für die neue Saison gelegt, hat der Trainer seine Spielidee eingeübt, wurden die Neuzugänge integriert. Gelöste Stimmung trotz harter Arbeit.

Die Stimmung schlägt um

Am vierten Tag des Trainingslagers testet der BVB gegen den FC Valencia. Sebastien Haller fehlt im Kader. Zuvor hat der Stürmer über Unwohlsein geklagt. Untersuchungen, Telefonate und schließlich die Abreise des Neuzugangs folgen. Haller, der Königstransfer, der in der neuen Saison für den Großteil der Tore zuständig sein soll, wird aufgrund einer Krebserkrankung lange ausfallen. Wenn alles gut läuft, kann er zum Ende der Saison vielleicht einige Minuten spielen, ist die vorsichtige Prognose. Aber das ist der sportliche Aspekt. Viel wichtiger ist der Mensch Sebastien Haller, der schwer erkrankt ist und wieder gesund werden will.

Die Stimmung in Bad Ragaz schlägt schlagartig um. Am nächsten Morgen schleichen die Profis mit betroffenen Gesichtern zum Regenerationstraining ins Fitnesszelt. Alle Spieler und die Betreuer versammeln sich dort zum Gruppenfoto, auf dem sie drei Haller-Trikots in die Kamera halten. Mut machen, Genesungswünsche schicken. Einige Tage später beendet der BVB das Trainingslager und bereitet sich zu Hause weiter auf den Saisonauftakt vor. Im Hintergrund arbeiten die Verantwortlichen daran, den Stürmer Nummer eins zu ersetzen.

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Das erste Pflichtspiel führt die Schwarzgelben nach München. In der ersten Runde des DFB-Pokals besiegt der BVB 1860 München ungefährdet mit 3:0. Auch der Auftakt in der Bundesliga gelingt: 1:0 zu Hause gegen Bayer Leverkusen. Beim ersten Auswärtsspiel der Saison wird Freiburg mit 3:1 bezwungen. Drei Spiele, drei Siege – so kann es weitergehen. Im folgenden Heimspiel gegen Werder Bremen führt Schwarzgelb bis zur 88. Minute mit 2:0 – und muss sich dem Aufsteiger am Ende mit 2:3 geschlagen geben. Fassungslose Gesichter auf dem Platz und auf den Rängen. „Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Wenn ich das wüsste, hätten wir es abgestellt“, sagt Kapitän Marco Reus über das Unerklärbare. Die erste Saisonniederlage – und was für eine. Eine Woche später zeigt die Mannschaft bei Hertha BSC die richtige Reaktion und gewinnt 1:0 in Berlin. Das Tor des Tages erzielt Anthony Modeste, der drei Wochen zuvor als neuer Stürmer verpflichtet wurde.  

Ein emotionaler Höhepunkt der Saison findet Anfang September jedoch in einem anderen Wettbewerb statt: Beim Champions-League-Auftakt gegen den FC Kopenhagen ist unter den 70.700 Zuschauern ein ganz besonderer. Nachdem Stadionsprecher Danny Fritz die Mannschaftsaufstellung des BVB verkündet hat, wird es kurz ganz leise im SIGNAL IDUNA PARK. Fritz begrüßt Sebastien Haller im Stadion, der auf der Anzeigetafel eingeblendet und von den BVB-Fans mit großem Applaus gefeiert wird. Es ist sein erster Auftritt als Borusse in seinem neuen Stadion. „Als wir eingelaufen sind, haben wir ihn auf dem großen Bildschirm gesehen. Ich habe Gänsehaut bekommen. Er ist ein starker Mensch und wird uns noch viel geben“, sagt Reus anschließend.

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Nach dem emotionalen Höhepunkt folgt ein sportlicher Tiefpunkt: In Leipzig verliert der BVB klar und verdient mit 0:3. Es folgt: die nächste Reaktion. Beim mit Spannung erwarteten Revierderby knistert es schon Tage vorher in der Stadt. Es ist das erste „echte“ Derby seit 1239 Tagen, nach Corona und dem Schalker Abstieg. Jetzt kommen 81.100 Zuschauer in den SIGNAL IDUNA PARK und sehen einen überlegenen BVB, der nach einem Tor von Youssoufa Moukoko mit 1:0 gewinnt. Das Stadion brodelt und auch die Profis lässt das Spiel nicht kalt. „Die ganze Woche hat sich ums Derby gedreht. Geil! Hochverdient! Und dann macht es ein Jungspund: Mouki! Das freut mich unheimlich. Die Fans tragen uns. Das hat sehr viel Bock gemacht. Und die Feier danach macht am meisten Bock“, so Nico Schlotterbeck nach seinem ersten Derby.

Und der Siegtorschütze? „Davon träumst du als Kind. Es war sehr schön, das zu erleben. Wenn ich als Joker reinkomme, ist es für mich auch gut. Irgendwann werde ich auch mal wieder von Anfang an spielen, aber ich mache mir da keinen Druck“, sagt Moukoko, der seine eigene Geschichte in dieser Saison schreibt: Am 9. Spieltag wird er erstmals in die Startelf rücken und fortan Dortmunds Stürmer Nummer eins sein. Sechs Tore und vier Torvorlagen in der Bundesliga bis zum Jahresende werden dazu führen, dass Moukoko sogar als Debütant mit Deutschland zur Fußball-Weltmeisterschaft fährt. 

Marco Reus verletzt sich

Überschattet wird das Derby allerdings von einer Verletzung von Marco Reus, der bis zu dieser Partie immer in der Startelf stand und dem Dortmunder Spiel als absoluter Stammspieler seinen Stempel aufdrückte. Nach rund einer halben Stunde Spielzeit muss er mit einem Außenbandanriss im Sprunggelenk ausgewechselt werden. Zwei Comeback-Versuche in den Wochen danach scheitern, bis zum Jahresende ist der Kapitän weitgehend außen vor. „Es gibt niemanden, mit dem ich aktuell häufiger telefoniere als mit unserem Mannschaftsarzt“, sagt Edin Terzic, nachdem sich sein Kapitän verletzt hat. Reus ist im Laufe der Hinrunde nicht der einzige Spieler, der den Mannschaftsarzt häufiger als den Trainer sieht. „Vor den Verletzungen, vor der Erkrankung von Sebastien Haller, wurde darüber spekuliert, ob es einen holprigen Start gibt. Den gab es“, fasst Terzic zusammen.

Es geht holprig weiter: Einer Niederlage in Köln folgt ein Unentschieden zu Hause gegen Bayern München, das die BVB-Fans so schnell nicht vergessen werden. In einem intensiven Topspiel sehen die Gäste nach einer 2:0-Führung lange wie der sichere Sieger aus. Moukoko eine Viertelstunde vor Schluss und Modeste mit einem Tor bei der letzten Aktion lassen den SIGNAL IDUNA PARK eskalieren. „Dann ist das Stadion explodiert“, sagt Schlotterbeck über diesen Moment. Es sind die Momente puren Glücks, das in den Augen der Spieler, der Trainer und der Fans sichtbar wird.

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Eine Woche später rutscht der BVB nach einer Niederlage bei Union Berlin auf den achten Tabellenrang ab, die schlechteste Platzierung im gesamten Saisonverlauf. Fünf Spiele sind es noch bis zur Winterpause, die aufgrund der WM bereits Mitte November beginnt. Mit drei Siegen wähnt sich Schwarzgelb wieder im Aufwind, doch die letzten beiden Partien des Jahres führt die Mannschaft nach Wolfsburg und Mönchengladbach. Beide gehen deutlich verloren. Sechster der Tabelle. Zwei Punkte Rückstand auf Platz vier. Neun Punkte Rückstand auf Platz eins. „Jetzt haben wir einen Rückstand, den wir ab Januar gutmachen müssen. Wir starten nicht bei Null, wir starten bei Minus“, sagt ein enttäuschter Edin Terzic. Am Elften im Elften ist beim BVB niemandem zum Lachen zumute. Die Niederlagen wirken nach, mit gedämpfter Stimmung geht es in die zweimonatige Pause, in der die Mannschaft keinen Einfluss auf die Tabelle nehmen kann.

Die Nationalspieler fahren zur WM, der Rest des Kaders fliegt nach Asien, das Trainerteam dreht jeden Stein um. Und Sebastien Haller? Kämpft sich zurück. Chemotherapien, Operationen, Reha. Der Stürmer will zurück auf den Platz.
Christina Reinke

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