„Reisen“ – das klingt wie ein Begriff aus längst vergangenen Zeiten. Doch nicht für Steffen Tigges. Der 22 Jahre junge Mittelstürmer befindet sich in der Saison 2020/21 auf der Reise seines Lebens. Eine Kreuzfahrt ins Glück, auf der er mal als Kapitän auf der Brücke steht und mal als Matrose die Planken schrubbte. Als Kapitän der U23 in der Regionalliga West und als Matrose bei den Profis in Bundesliga, DFB-Pokal und Champions League. 

Es ist eine Reise, die ihn zum FC Bayern München führt. Und zum FC Wegberg-Beeck. Auf der er mal gegen Manchester City aufläuft. Und dann wieder gegen den SV Straelen. Freitagabend noch Einwechselspieler beim 2:4 im Bundesliga-Spitzenspiel in Mönchengladbach. Kaum 16 Stunden später als zweifacher Torschütze der Matchwinner beim 3:0-Auswärtserfolg im Regionalliga-Duell bei den Amateuren des 1. FC Köln. Es ist eine wilde Fahrt zwischen zwei Fußball-Welten, die Steffen Tigges absolviert hat. Aber wenn man mit ihm darüber spricht, wirkt es nicht, als drohe er die Orientierung zu verlieren. 

Viele Reiseplanungen wurden über den Haufen geworfen, seit Corona die Rahmenbedingungen diktiert. Wer „Reisen“ sagt, hat „Stornieren“ stets im Hinterkopf. Und auch Steffen Tigges hätte seine Reise um ein Haar gar nicht erst angetreten. „Im Sommer 2020 gab es tatsächlich ein paar Wechselgedanken“, bekennt der Angreifer. Dabei war er erst ein Jahr zuvor von der Bremer Brücke an die Strobelallee gewechselt. Zuvor hatte Tigges mit seinem Lieblingsklub VfL Osnabrück, für den er seit seinem zwölften Lebensjahr spielte, den Aufstieg in die zweite Liga geschafft – in der weiteren Planung aber keine feste Rolle gespielt. Die letztlich Corona-bedingt abgebrochene Saison 2019/20 mit der U23 des BVB war dann für die Mannschaft „eher mittelmäßig“ verlaufen. Tigges selbst aber hatte sich als Torschütze und Vorbereiter mit mehr als 20 Scorerpunkten in den Vordergrund gespielt. Es gab Angebote – und es ist der Überzeugungskraft von Teammanager Ingo Preuß zu verdanken, dass sich der Angreifer fürs Bleiben entschied. 

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Heute weiß er: Es war eine kluge Entscheidung. Eine, die seiner sportlichen Laufbahn einen komplett neuen Spin verlieh. In Kombination mit anderen Entscheidungen und Zufällen, auf die Steffen Tigges, zugegeben, keinen Einfluss hatte. Aber irgendwie fügten sich in den folgenden Monaten viele Puzzleteilchen zu einem Gesamtbild. 

Das zeigt einen positiven jungen Mann, der mit seinem Gardemaß von 1,93 Metern und dem auffälligen Blondschopf auch der sympathische Hauptdarsteller in einer College-Komödie aus Hollywood sein könnte. Steffen Tigges strahlt eine Grund-Fröhlichkeit aus, die ansteckend ist. 

Ein Puzzleteil: der Trainerwechsel bei der U23. Enrico Maaßen brachte nicht nur eine klare Spielidee mit. Er findet auch die richtige Ansprache, kitzelt das Maximum aus seinen jungen Talenten heraus. „Das Trainerteam macht einen überragenden Job“, lobt Tigges und erklärt auch, was er damit meint: „Einerseits spielt die Analyse des Gegners eine zentrale Rolle. Andererseits haben wir für uns selbst klare Muster und Prinzipien erarbeitet, die unabhängig vom Gegner und unserer eigenen Aufstellung immer funktionieren müssen. Dieser Mix macht unseren Erfolg aus.“ Nur eines von 38 Spielen hat die U23 in der Regionalliga West verloren – am 25. November 2020 mit 1:2 gegen den SV Rödinghausen. Zwölf Unentschieden stehen 25 Siege gegenüber. Eine kleine Schwächephase von Rot-Weiß Essen im März nutzte das Team, um in der Tabelle am großen und längst auch einzigen Konkurrenten vorbeizuziehen. 87 Zähler insgesamt hat die Mannschaft geholt bei nur noch zwei ausstehenden Partien in einer Mammutsaison mit 21 Teams und 40 Spieltagen. 

Ein weiteres Puzzleteil: seine physische Entwicklung. Steffen Tigges hat gerade im Frühjahr und Sommer 2020, als Corona erstmals andere Aktivitäten ausbremste, viel Zeit im Fitnessraum verbracht und sich an Foltergeräten gequält. Das Ergebnis ist sichtbar. Er selbst beschreibt es so: „Ich bin körperlich robuster geworden. Davon profitiere ich im Eins-gegen-eins. Ich kann mich im Zweikampf besser durchsetzen und die Bälle besser festmachen.“ Was Tigges eigentlich meint: Er ist eine „Kante“, die Gegenspielern Respekt einflößt und auch im Rückraum eines Handball-Teams bestehen könnte. 

Und noch ein Puzzleteil: die Entwicklung bei den Profis. Eine Folge des Trainerwechsels von Lucien Favre zu Edin Terzic ist die größere Kader-Durchlässigkeit zwischen U23 und Bundesliga. Als Torjäger Erling Haaland im Dezember verletzungsbedingt pausieren musste, nominierte Terzic im DFB-Pokal-Achtelfinale bei Eintracht Braunschweig zur allgemeinen Überraschung Steffen Tigges für die Start-Elf. Zwar blieb der Stürmer ohne eigenen Treffer, überzeugte aber mit einer couragierten Leistung und spielte 90 Minuten durch. 

Es folgten die Wochen der Premieren: Am 3. Januar beim 2:0 gegen den VfL Wolfsburg das Bundesliga-Debüt. Auch in Leipzig, Leverkusen, Gladbach, München und gegen Bremen wurde Steffen Tigges eingewechselt und betrat am 14. April im Viertelfinal-Rückspiel gegen Manchester City in der 81. Minute erstmals die Champions-League-Bühne. Dazwischen dann immer wieder Regionalliga West. Gegen den Wuppertaler SV, die Sportfreunde Lotte, den Bonner SC und den VfL Homberg. 

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Dass er zum Nachdenken angesichts des prall gefüllten Terminkalenders kaum kommt, ist sicherlich kein Nachteil. „Vielleicht habe ich nach der Saison mal ein wenig Ruhe und Gelegenheit, die Entwicklung zu reflektieren und die Ereignisse ein wenig sacken zu lassen.“ Bis dahin aber hat der junge Mann noch große Ziele und viel vor.  

Ganz oben auf der To-Do-Liste: die Regionalliga-Meisterschaft und der Aufstieg in die 3. Liga. Als Kapitän fühlt er sich verantwortlich dafür, diese herausragende Saison nun auch zum krönenden Abschluss zu führen. Als Torjäger hat er maßgeblichen Anteil daran. Bei 20 Treffern in 33 Spielen steht Tigges. Eine Top-Quote. „Die Jungs wissen: Wenn sie mir den Ball geben, mache ich meistens irgendetwas Sinnvolles damit.“ 

Das schwere Auswärtsspiel in Oberhausen gewann die Mannschaft auch ohne ihre Offensivtrümpfe Steffen Tigges und Ansgar Knauff, die parallel im Profi-Kader für das Spiel gegen Werder Bremen standen. „Wir wissen einfach, dass unsere Automatismen unabhängig von der Aufstellung funktionieren; dass wir auch während des Spiels Antworten finden und Rückstände drehen können“, sagt Tigges. „Wir wissen aber auch, dass nichts von alleine läuft. Diese Truppe hat einen guten Charakter, einen tollen Teamspirit und legt eine große Ernsthaftigkeit an den Tag.“ 

Die Erfolgserlebnisse der vergangenen Monate haben wie ein Katalysator auf diese Entwicklung gewirkt. „Wenn’s so gut läuft, bist du als Kapitän ja im Grunde kaum gefordert“, sagt der 22-Jährige. Dass er auch schwierigeren Situationen gewachsen wäre, daran besteht kein Zweifel. Steffen Tigges wirkt für sein Alter sehr erwachsen. Das liegt ganz sicher auch an seinem bodenständigen Elternhaus. „Zuverlässig“ sei er und „hilfsbereit“. Werte, die seine Eltern ihm mit auf den Lebensweg haben. „Ich definiere mich nicht allein über den Fußball, gehe mit offenen Augen durch die Welt und interessiere mich auch für die Dinge, die rechts und links des Spielfeldes passieren.“ Deshalb absolviert er parallel ein Sportbusiness-Studium an der Fernuni. Und auch wenn er in dieser Saison die größtmögliche Bühne betreten hat, die es im deutschen Sport gibt, brauche er das Scheinwerferlicht eigentlich nicht. „Ich habe Humor und immer einen Spruch auf den Lippen, aber ich kann in manchen Situationen auch richtig schüchtern sein.“ 

Das mit der Bühne ist ja ohnehin so eine Sache, weil sie inmitten leerer Ränge steht. Noch hat kein Fan von der Tribüne aus Steffen Tigges live in der Bundesliga spielen sehen. Noch hat er selbst das prickelnde Gänsehaut-Gefühl nicht erleben dürfen, das sich zwangsläufig einstellt, wenn man aus dem engen Spielertunnel des SIGNAL IDUNA PARK kommt und nach links auf die brodelnde Südtribüne blickt. 

Doch was auch immer geschieht: Steffen Tigges wird nach dem letzten Schlusspfiff der Spielzeit 2020/21 auf eine unglaubliche Reise zurückblicken. Ob es dann tatsächlich eine Kreuzfahrt ins Glück gewesen sein wird, mag vom Ausgang abhängen. Ein Abenteuerurlaub mit zahllosen Wow-Momenten war es allemal. Ein wilder Rafting-Trip. Und der darf gerne weitergehen. Wer Steffen Tigges nach seinem Reiseziel für 2024 oder 2026 fragt, bekommt eine klare Antwort: Bundesliga! In die Ferne zieht es ihn dabei nicht. „Am liebsten wäre mir Dortmund. Der BVB. Als Stammspieler.“ Matrose wäre er dann ganz sicher nicht mehr. Kapitän? Wer weiß... 
Frank Fligge